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002 - Free like the Wind, page 1

 part  #2 of  Kanada Series

 

002 - Free like the Wind
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002 - Free like the Wind


  Kira Mohn

  Free like the Wind

  Roman

  Über dieses Buch

  Tausend Splitter anstelle eines Herzens …

  Rae wirkt nach außen wie jede andere 20-Jährige, innerlich jedoch ist sie zerbrochen. An einem schrecklichen Tag vor vier Jahren hörte ihre Welt auf, sich zu drehen – und sie steht auch heute noch still. Rae ist erstarrt, gefangen in den Scherben ihres Lebens. Bis die Idee einer Freundin sich in ihr festsetzt: wandern gehen in einem von Kanadas Nationalparks. Weite Landschaften. Nur sie und die Natur. Genauer gesagt: nur sie, die Natur und Cayden. Ausgerechnet Cayden. Er ist ein Aufreißer, nimmt nichts ernst. Doch in seinen Augen liest Rae etwas, das sie schmerzhaft gut kennt …

  Herzzerreißend und gefühlvoll – das Finale der zweibändigen Kanada-Reihe von Kira Mohn

  Vita

  Kira Mohn hat schon die unterschiedlichsten Dinge in ihrem Leben getan. Sie gründete eine Musikfachzeitschrift, studierte Pädagogik, lebte eine Zeitlang in New York, veröffentlichte Bücher in Eigenregie unter dem Namen Kira Minttu und hob zusammen mit vier Freundinnen das Autoren-Label Ink Rebels aus der Taufe. Heute wohnt sie mit ihrer Familie in München. Die Romantik darf in ihren Geschichten nicht zu kurz kommen, aber vor allem ist es ihr wichtig, Figuren zu erschaffen, die sich echt anfühlen. Nach der Leuchtturm-Trilogie veröffentlicht sie nun mit «Wild like a River» und «Free like the Wind» ihre zweite Serie bei KYSS. Kira ist auf Facebook und Instagram aktiv und tauscht sich dort gern mit Lesern aus.

  facebook.com/MinttuMohn

  instagram.com/kira.mohn

  • Für Kathrin •

  Das ist das Mindeste

  1.

  Rae

  «Rae? Ist alles in Ordnung?»

  Mum steht in meiner Zimmertür, und wie so oft hat sie zwar angeklopft, ist dann aber direkt hereingeplatzt, ohne auf eine Antwort zu warten. Diesmal hat sie dafür zugegebenermaßen einen Grund. Ich habe mich gerade erst wieder aufgesetzt, nachdem ich bei meinem Versuch, einen Kopfstand hinzubekommen, einfach zur Seite gekippt bin.

  «Alles okay.» Mein Nacken fühlt sich ein wenig verrenkt an, aber das behalte ich besser für mich. Sonst googelt sie Symptome bei Nervenschädigungen im Halsbereich.

  «Ich habe ein Poltern gehört und dachte …»

  «Mir sind nur ein paar Bücher aus der Hand gefallen.»

  Meine Ausrede wird unterstützt durch einen umgekippten Stapel Bücher neben dem Bett, neben dem ich gerade hocke, als habe ich sie aufsammeln wollen. Dass die dort bereits seit gestern Abend liegen, weiß meine Mutter ja nicht.

  «Okay, wenn es dir wirklich gutgeht …» Sie lächelt ihr kleines Mum-Lächeln, ein bisschen entschuldigend und sehr traurig, und mein Herz zieht sich zusammen.

  «Es ist alles okay, wirklich», erwidere ich und lächle zurück.

  «Gut, dann … Es gibt gleich Abendessen.»

  «Alles klar, ich komm runter.»

  Sobald die Tür sich hinter ihr geschlossen hat, taste ich nach meinem schmerzenden Nacken und drehe den Kopf vorsichtig erst nach rechts, dann nach links. Autsch.

  Von wegen Kopfstand für Anfänger. Dieses blöde YouTube-Video. Ich hätte bei meinen Yogaübungen einfach beim Sonnengruß bleiben sollen.

  Meine Freundin Haven beherrscht die Kopfstandübung perfekt, und hätte sie mir vorhin am Telefon nicht davon vorgeschwärmt, müsste ich jetzt nicht meine Knochen sortieren. Ich sollte endlich einsehen, dass Haven mir in Sachen Körperbeherrschung weit überlegen ist. Dabei hat sie mit Yoga erst vor ein paar Wochen angefangen. Ächzend erhebe ich mich, um ins Badezimmer zu gehen. Vielleicht lasse ich den Kopfstand fürs Erste lieber sein und wage mich nur an neue Übungen, für die ich ohnehin auf dem Boden liegen muss. Haven wird dazu garantiert eine ganze Reihe an Vorschlägen haben.

  Vor dem Spiegel wickele ich mir die langen Haare zu einem Knoten zusammen, den ich mit geradezu absurd vielen Spangen feststecke. Meine vietnamesische Urgroßmutter hat mir das glatte, schwere Haar vererbt, allerdings ist es seit einiger Zeit nicht mehr schwarz, sondern blau. Damit habe ich Philippe, meinen Chef im Phoenix, an seine Grenzen gebracht und kann wohl von Glück sagen, dass er mich nicht gefeuert hat. «Blau!», hat er gerufen und mich entgeistert angestarrt. «Warum färbst du deine Haare blau?»

  Warum nicht? Es ist ein wunderschönes, tiefes Nachtblau, und es hat mir einfach gefallen.

  Philippe steht auch nicht auf offene Haare bei der Arbeit. Er findet das unhygienisch, als würde ich nicht in einem Kino an der Kasse sitzen, sondern am offenen Herzen operieren. Ich befestige eine letzte Spange, klemme mir die vorderen, nur kinnlangen Strähnen hinters Ohr und schüttele versuchsweise den Kopf. Das sollte halten.

  Meine Mutter wuselt in der Küche herum, als ich die Treppe hinunterkomme. Dad ist wie so oft nicht da, aktuell gibt’s in Vancouver Dinge für die Firma zu regeln, bei der er arbeitet. Die Energie, die meine Mutter in erster Linie in mich steckt, investiert Dad in seinen Job, und dafür bin ich ganz dankbar. Ich liebe meine Eltern und verstehe sie vollkommen, trotzdem sind sie gemeinsam mitunter schwer zu ertragen. Die beiden ständig im Doppelpack – ich würde irre werden.

  «Rae? Kannst du das Gemüse mitnehmen?»

  Kaum habe ich ihr die Schüssel abgenommen, greift sie sich ein Handtuch, um einen Teller Crêpes aus dem Ofen zu holen, wo sie sie warm gehalten hat.

  Im Esszimmer schiebe ich die große Vase beiseite, in der gelbe Tulpen bereits die Köpfe etwas hängen lassen.

  Mum stellt die Crêpes zwischen die anderen Schalen. «Nimm dir Bambussprossen», weist sie mich an, während sie sich auf ihrem Stuhl niederlässt. «Und trink bitte dein Wasser, ja? Du trinkst zu wenig. Das ist nicht gut.»

  Diesen Hinweis höre ich seit Wochen Tag für Tag. Mit ziemlicher Sicherheit hat Mum irgendwo gelesen, dass man täglich mindestens drei bis vier Liter Wasser trinken sollte, oder eine ihrer Freundinnen hat ihr das erzählt. Seitdem rennt sie mir mit Wasserflaschen hinterher. Und das wird sie tun, bis etwas anderes in ihren Fokus rückt – wenn ich Glück habe, bevor ich eine Allergie gegen Wasser entwickelt habe. So viel trinkt einfach kein normaler Mensch.

  «Wann bist du heute Nacht wieder da?», will sie jetzt wissen.

  «Gegen zwei.»

  Wie an jedem Donnerstag. Die Spätvorstellung beginnt erst um Viertel nach elf, und bis dann alle Leute draußen sind und ich den Saal aufgeräumt habe, dauert es eine Weile. An den anderen Tagen, an denen ich im Kino arbeite, läuft die letzte Vorführung spätestens um halb neun, doch eigentlich sollte Mum sich mehr Sorgen machen, wenn ich vor Mitternacht nach Hause gehe. Um diese Uhrzeit sind meiner Erfahrung nach mehr Idioten unterwegs.

  «Rufst du mich an, sobald du losgehst?»

  «Mach ich.»

  «Pfefferspray hast du?»

  «Klar.»

  Mum hat es extra in einem Outdoorladen für mich gekauft. Offiziell ist es ein Bärenspray, aber ihrer Meinung nach treiben sich nachts in Edmontons Straßen Leute herum, die mindestens genauso gefährlich sind wie Bären. Sie führt die Gabel zum Mund und hält inne. Ich weiß genau, dass sie in diesem Moment mit sich ringt, weil sie mich zum tausendsten Mal bitten möchte, mir ein Taxi zu nehmen. Für meinen Wagen gibt es dort im weiten Umkreis einfach keinen Parkplatz. Aber mit einem Taxi wäre ich erstens ohnehin beinahe länger unterwegs als zu Fuß, und zweitens ginge ein Viertel meines Verdienstes für die Fahrtkosten drauf. Und ich will auch nicht, dass Mum das Taxi jeden Abend bezahlt. Oder mich abholt. Es ist schwer genug, sich in diesem Haus halbwegs selbständig zu fühlen, genau genommen ist es beinahe unmöglich. Und um die wenigen Freiheiten, die ich habe, kann ich sehr hartnäckig kämpfen.

  Zu diesem Ergebnis scheint auch Mum zu kommen, die sich gerade die Gabel in den Mund schiebt. Jetzt darf ich sie nur nicht zu lange ansehen, sonst bekomme ich wie so oft ein schlechtes Gewissen.

  «Dein Wasser», erinnert sie mich, als ich nach dem Essen aufstehen will, um noch einmal nach oben zu gehen, bevor ich losmuss. Ich stürze die kalte Flüssigkeit hinunter und bringe das Glas mitsamt Teller in die Küche, bevor sie mir nachschenken kann.

  In meinem Zimmer streife ich die dünne Lederjacke über, schnappe mir meine Umhängetasche und eile dann auf Socken wieder hinunter, um mir halbhohe Schnürboots anzuziehen.

  Kurz darauf steht Mum vor der Haustür, um sich von mir zu verabschieden, und ich wette, ich bin die einzige Zwanzigjährige in ganz Edmonton, die sich an der Straßenecke noch einmal zu ihrer Mutter umdreht. Sie ist einige Schritte auf die Veranda hinausgetreten, um mir hinterherzuschauen. Allein diesen Blickkontakt zu unterbrechen, ist jedes Mal ein psychologischer Kraftakt. Ich weiß ja, woran sie in diesem Augenblick denkt. An dasselbe wie ich. Tag für Tag.

  Ist vermutlich kein Wunder, dass unsere Familie mittlerweile ein wenig verrückt geworden ist.

  Für den Weg zum Kino benötige ich nur knapp zwanzig Minuten, wenn ich durch den Park gehe, in dem die Bäume seit einer Weile endlich wieder grüne Blätter tragen. Dass ich diese Abkürzung nehme, ist auch etwas, das Mum nicht gutheißt. Mir ist bewusst, dass all diese kleinen Dinge dazu beitragen, mich meiner Mutter gegenüber ewig wie siebzehn zu fühlen, aber ich komme nicht dagegen an. Weder gelingt es mir, meine kleinen Trotzhandlungen zu unterlassen, noch scheint es einen Weg zu geben, meine Mutter davon abzubringen, mich am liebsten den ganzen Tag in meinem Zimmer einsperren zu wollen. Und wenn schon nicht das, dann wäre es ihr lieber, ich würde studieren, so wie Haven, statt nur in einem Kino zu arbeiten.

  Es tut mir leid, ihr diesen Wunsch nicht erfüllen zu können. Meine Eltern hatten extra gewartet, bis ich mit der Highschool fertig
war, bevor Dad sich versetzen ließ und wir Winnipeg den Rücken kehrten, um nach Edmonton zu ziehen. Vor allem Mum war wegen meines Abschlusses so erleichtert. Was für eine unglaubliche Leistung das sei, nach allem, was geschehen war, hat sie mir ungefähr tausendmal versichert. Nur bin ich in ihren Augen leider direkt danach zum Stillstand gekommen, und obwohl sie versucht, Verständnis dafür aufzubringen, verstärkt jeder Monat, der vergeht, ihre Sorge, ich könne den Anschluss verlieren. Dabei ist das längst geschehen.

  «Aber irgendetwas musst du doch machen», sagt sie immer, und mit Sicherheit wünscht sie mir nicht, dass ich mal Geschäftsführerin des Phoenix werde. Dazu müsste ich allerdings erst einmal herausbekommen, was ich eigentlich will.

  Aktuell jedenfalls will ich einfach nur raus. Ich will auf die Straße, ich will in den Park, und es macht mir keine Angst, allein unterwegs zu sein. Vor ziemlich genau zwei Jahren habe ich mit Krav Maga angefangen, und ich bin gut. Diese Kampfsportart beherrsche ich weit besser als Yoga, und jeder, der mir zu nahe käme, würde das unmittelbar feststellen. Das Bärenspray in meiner Tasche könnte sich auf mich verlassen, nicht umgekehrt.

  Wenn der Park hinter mir liegt, dauert es keine fünf Minuten, bis ich beim Kino angekommen bin. Das Phoenix ist das älteste Kino in Edmonton, vielleicht sogar in ganz Alberta. Früher gab es sogar noch ein separates Kassenhäuschen vor dem Eingang, doch das war vor meiner und sogar noch vor Philippes Zeit. Es hat nur einen einzigen Filmsaal, aber wegen seines Retro-Charmes kann es sich auf eine loyale Anhängerschaft verlassen. Viele Besucher sind treue Phoenix-Gänger und würden selbst die Blockbuster, die gelegentlich bei uns laufen, nie in einem der modernen Multiplex-Cinemas anschauen.

  «Rae, hi. Wie geht’s dir? Du kannst gleich Popcorn machen.»

  Ich habe die Schwingtür in meinem Rücken noch nicht wieder abgeschlossen, als Philippe mich mit diesen Worten begrüßt. Philippe hat vor wenigen Jahren noch in Frankreich gelebt und ist nicht unbedingt der «Wie war dein Tag? Danke, prima, und selbst?»-Typ. Mittlerweile hab ich mich daran gewöhnt und mag es sogar irgendwie.

  «Und füll die Süßigkeiten auf!», ruft er noch, während er die Treppe neben dem Eingang zum Saal hinauf verschwindet. Vermutlich überprüft er oben noch einmal, ob Maverick nach der Mittagsvorstellung die Filmrolle wieder auf den Anfang gesetzt hat.

  Philippe hat die Popcornmaschine schon angeheizt, und ich fülle Maiskörner und Salz ein, nachdem ich den Zettel überprüft habe, auf dem die heute Nachmittag verkauften Süßwaren stehen. Scheint, wir haben noch von allem genug.

  Als Philippe wieder herunterkommt, poppen in der Maschine gerade die letzten Körner auf. «Ich gehe heute nach der ersten Vorstellung», sagt er. «Aber Maverick kommt später noch mal.»

  «Alles klar.» Mit dem gemütlichen Maverick arbeitet es sich ohnehin angenehmer als mit meinem hektischen Chef. Philippe ist irgendwas um die fünfzig, ein kleiner Mann mit Nickelbrille und weichen Gesichtszügen, der mindestens zweimal in der Woche verkündet, dass ein Herzinfarkt ihn demnächst dahinraffen wird. Meistens dann, wenn Maverick mal wieder keine Lust hatte, den Saal nach der Mittagsvorstellung sauber zu machen, oder ich vergesse, irgendetwas nachzubestellen. Als vor einiger Zeit eine Besucherin mitten in der Vorstellung zu hyperventilieren begann, musste ich mich erst um sie und dann um Philippe kümmern, der sich solidarisch um ein Haar gleich danebengelegt hätte.

  Pünktlich zum Einlass stehen bereits die ersten Leute vor der Tür, und ich verkaufe Tickets, Popcorn und Süßigkeiten und versuche nebenbei vorherzusagen, wer von den Leuten, die jetzt noch lächeln, nachher wohl weinend den Saal verlassen wird. Heute läuft zum dritten und letzten Mal Sommersby, ein uralter Film mit Jodie Foster, und vorgestern war ich völlig schockiert, als nach der Vorstellung laut schluchzende Besucher aus dem Saal strömten. Ich habe mir den Film gleich in der nächsten Mittagsvorstellung angesehen und konnte danach verstehen, warum alle heulen.

  «Das macht dreiunddreißig Dollar», teile ich dem Typen vor mir mit und händige ihm dabei eine Popcorntüte aus. Statt zu bezahlen, lässt er seinen Blick noch mal über die Auslage streifen und mustert mich anschließend ein paar Sekunden zu lang. Er ist einer von diesen glatten, von sich selbst überzeugten Schönlingen in dunkelhaariger Ausführung, und wenn ich den resignierten Ausdruck in den Augen der jungen Frau neben ihm richtig einschätze, kommt jetzt gleich noch irgendein blöder Spruch.

  «Vielleicht nehme ich noch …»

  Ungeduldig warte ich darauf, dass er endlich zur Sache kommt. Hinter ihm zieht sich die Schlange bis zur Tür, und ich hätte gern jeden drin, bevor es im Saal dunkel wird.

  «… ein Mr. Big.» Er grinst auf eine Art, bei der ich innerlich mit den Augen rolle. Erstens muss ich mir Mr.-Big-Sprüche ständig von irgendeinem Idioten anhören, und zweitens nerven mich Typen, die vielsagend einen Mr.-Big-Schokoriegel verlangen, noch um einiges mehr, wenn daneben die Freundin auf ihr Smartphone starrt und so tut, als bekomme sie die blöde Anmache ihres Freundes nicht mit.

  «Fünfunddreißig Dollar dann.»

  Er hält mir ein paar Scheine entgegen und lässt einige Sekunden lang nicht los. Dieser Typ heult nachher garantiert nicht. Ich bezweifle, dass ihn der Film überhaupt interessiert.

  Meine Vermutung bestätigt sich eine knappe Stunde später, als sich die Tür zum Saal öffnet und der Kerl erneut auftaucht. Natürlich will er nicht zu den Toiletten. Stattdessen tut er erst so, als überlege er ein weiteres Mal vor den Schokoriegeln, bevor er mit zwei Schritten zu mir an die Kasse kommt.

  «Der Film ist Schrott», teilt er mir mit.

  «Das tut mir leid», sage ich höflich. Lieber würde ich mit Du hast doch keine Ahnung antworten, aber das würde Philippe seinen hundertsten Herzinfarkt bescheren. In diesem Monat. Immer freundlich mit den Kunden.

  «Was läuft morgen?»

  «Pulp Fiction. Tarantino-Woche.»

  «Klingt besser. Guckst du dir die Filme auch selbst an?»

  «Das ist schwierig, wenn man gleichzeitig arbeiten muss.» Schwachkopf. Letzteres denke ich nur sehr laut.

  Er lacht und lehnt sich mit der Hüfte gegen die Theke. Oh nein, er macht es sich bequem.

  «Wann hast du denn Schluss? Ich bin übrigens Zane.»

  Er hält mir seine Hand hin, die ich nur kurz ergreife. «Wenn nach der Vorführung die letzte Popcorntüte aufgesammelt ist.»

  «Schon mal dabei Leute erwischt, die es miteinander getrieben haben?»

  «Nein.» Aber ich finde nach Vorführungen mitunter gebrauchte Kondome in der hintersten Reihe. Das muss der Typ allerdings nicht wissen. Dessen Phantasie ist ohnehin schon im FSK-18-Bereich, und sein Grinsen macht deutlich, dass er überhaupt nicht kapiert, wie widerlich ich ihn finde. Entweder das, oder es geht ihm genau darum.

  «Vielleicht ändert sich das ja heute.» Er stößt sich von der Theke ab und geht zurück zur Tür, die in den Saal hineinführt. «Durch irgendetwas muss man sich den langweiligen Film ja erträglich machen.»

  Bah, was für ein grauenhafter Kerl. Trotzdem hat er es tatsächlich geschafft, mich zu beunruhigen. Nachdem der Film zu Ende ist und ein völlig in Tränen aufgelöster Strom an Menschen dem Ausgang entgegenstrebt, versuche ich, ihn in der Menge ausfindig zu machen – ohne Erfolg. Hoffentlich habe ich ihn nur übersehen. Sollten er und seine Freundin dadrin wie angekündigt noch beschäftigt sein, krieg ich die Krise.

  Als endlich die letzten Nachzügler die Treppe von den Toiletten hinaufkommen, warte ich noch zusätzliche fünf Minuten, nachdem die Schwingtüren sich hinter zwei Freundinnen geschlossen haben, von denen eine sich noch ausgiebig die Nase putzt, dann stehe ich auf, und weil Maverick noch nicht da ist, schließe ich ab. Eine halbe Stunde, so viel Zeit habe ich, bis ich wieder aufschließen muss, und dann sollte alles sauber sein, also los jetzt.

  Vorsichtig öffne ich die schwere Tür zum Kinosaal. Die Lichter an den Wänden leuchten, doch sie reichen nicht aus, um den Raum bis in die letzten Winkel hinein zu erhellen. Auf den ersten Blick scheint alles okay, Geräusche sind jedenfalls keine zu hören. Ich lasse den Blick über sämtliche Sitzreihen gleiten, die steil genug angeordnet sind, um hohe, bequeme Lehnen zu erlauben. Zu hoch, um von meiner Position aus sehen zu können, ob irgendwo vielleicht noch jemand auf einem der Plätze kauert. Oder auch gleich zwei Leute. Aber dann würde ich zumindest irgendwas hören, schätze ich.

 
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